Nicht schwindelfrei
Wie merkt der Mensch, dass er in schwindelnder Höhe schwindelt? Oder sagt man, er ist nicht frei von Schwindel? Wie auch immer, ich denke, dass man erst einmal hoch muss, um zu merken, es wäre besser gewesen, mit beiden Beinen auf der Erde zu bleiben. Dieses Erlebnis ist mir noch in lebhafter Erinnerung.
Es war an einem wunderschönen Sommervormittag, und mir war schrecklich langweilig. Da Artisten ja auch immer proben müssen, wollte ich einmal nachschauen, ob denn im Zelt nichts los war. Dort angekommen stand ich nun einsam und verlassen in der Manege ‘rum. Dann sah ich sie, die Strickleiter, die von der Zeltkuppel hinterlistig einladend herunterhing. Ich wusste, sie führte direkt zum Trapez. Von unten sah es eigentlich nicht so hoch aus. Ich beschloss also, der Einladung zu folgen und mich, wenn auch nur ein einziges Mal, auf besagtes Trapez zu setzen. So begann ich mit meinem mühevollem Aufstieg voller Konzentration, die mir einfach keinen Blick zurück erlaubte. Endlich war ich oben und ich schaffte es sogar, mich auf das Trapez zu hieven. Geschafft!!!
Voller Stolz wanderte mein Blick durch das Zelt und irgendwann auch nach unten. Da war er, der schreckliche Krampf in der Bauchgegend, gefolgt von aufsteigender Hitze, die wohl nur Frauen jenseits der 50 kennen. Der Stolz schwand schlagartig dahin, und zurück blieb ein Häufchen Unglück, festgeklammert am Trapez. Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach unten, doch wie sollte ich das anstellen? Ich hatte keinerlei Vertrauen mehr zu mir selbst und schon gar nicht zu dieser schwingenden Strickleiter. Also saß ich da und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Sie kamen in Gestalt meines Vaters und seinem Gesicht war anzusehen, dass dieser Tag für mich am Vormittag jäh enden würde. Er hatte erst einmal alle Hände voll zu tun, mich jammerndes Elend auf die Erde zurück zu bekommen. Unten angekommen versohlte er mir meinen Allerwertesten. In diesen Momenten beneidete ich immer meinen Bruder um seine Lederhose. Danach dann, ohne Mahlzeit ab ins Bett. Da war es erst langweilig. Na ja, zumindest konnte ich nichts mehr anstellen.
Seit dieser Aktion war mir klar: ich werde nie Artist!
